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StrafrechtDie Rechtsprechung in Verkehrs-OWi-Sachen zum Verfahrensrecht in 2022

Abo-Inhalt31.03.2023697 Min. LesedauerVon RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

| Der Beitrag stellt Ihnen im Anschluss an VA 22, 127 die wichtigsten Entscheidungen aus dem Jahr 2022 aus dem verfahrensrechtlichen Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten vor. Über das materielle Recht haben wir in VA 23, 70 berichtet. Weitgehend ausgenommen ist weiterhin die Rechtsprechung zur Umsetzung des BVerfG-Beschlusses in 2 BvR 1616/18, die in der Praxis immer noch eine Rolle spielt. |

Rechtsprechungsübersicht / Verkehrsstrafrechtliche Entscheidungen 2022

Anwesenheit in der Hauptverhandlung, Entbindungsantrag

Das KG hat dem BGH die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die Verlegung eines Hauptverhandlungstermins dazu führt, dass die vorangegangene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung des persönlichen Erscheinens „verbraucht“ ist, sodass sie für den neuen Termin gegebenenfalls neu beantragt und angeordnet werden muss (KG 28.2.22, 3 Ws (B) 31/22, DAR 23, 94). Für den nicht erschienenen, unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen kann der Entbindungsantrag noch zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt werden (KG 13.7.22, 3 Ws (B) 170/22, VA 23, 32). Für den Entbindungsantrag benötigt der zur Vertretung berechtigte Verteidiger nach § 73 Abs. 3 OWiG eine „nachgewiesene Vollmacht“ (KG 13.7.22, 3 Ws (B) 170/22, VA 23, 32).

Aufklärungspflicht

Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen (VerfG Brandenburg VA 22, 123). Die gerichtliche Aufklärungspflicht im Hinblick auf die Ladung von Entlastungszeugen ist in den Fällen eingeschränkt, in denen der in der Hauptverhandlung anwesende Betroffene anhand eines bei der Tat gefertigten Lichtbilds nach Auffassung des Tatgerichts eindeutig identifiziert worden ist. Die Verpflichtung, in einem solchen Fall dennoch einen Zeugen zu laden, hängt dann von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab (KG VA 22, 105).

beA/elektronisches Dokument

Der für die elektronische Kommunikation von Verteidigern und Rechtsanwälten bedeutsame § 32d StPO ist zum 1.1.22 wirksam geworden. Wir haben über die erste Rechtsprechung, die sich mit den daraus ergebenden Problemen und Fragen befasst, in VA 22, 201 berichtet. Dabei geht es meist um Fragen der Wirksamkeit von Rechtsmitteln.

Beschlussverfahren (§ 72 OWiG)

Hat das Amtsgericht eine Entscheidung auf dem Beschlusswege nach § 72 Abs. 1 S. 1 OWiG getroffen, erstreckt sich die sachlich-rechtliche Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht nur dann auf den Akteninhalt, wenn und soweit dieser durch die Gründe der angefochtenen Entscheidung in Bezug genommen worden ist (KG zfs 22, 649).

Besorgnis der Befangenheit

Eine unbedachte Äußerung des Gerichts kann die Besorgnis der Befangenheit begründen (AG Tiergarten VA 12, 220).

Bußgeldbescheid, Wirksamkeit

Unpräzise oder gar unrichtige Angaben des Tatorts in einem Bußgeldbescheid können unter Umständen unschädlich sein mit der Folge, dass den Verteidigungsinteressen des Betroffenen mit der Hinweispflicht des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO Genüge getan ist, wenn die konkrete Tat anderweitig so präzise umschrieben werden kann, dass sie eindeutig von möglichen anderen Taten unterschieden werden kann (AG Maulbronn VA 22, 197).

Einspruch, Beschränkung/Rücknahme

Eine Beschränkung des Einspruchs auf die Höhe der Geldbuße ist möglich (OLG Brandenburg VA 22, 125; AG Dortmund VA 22, 200). Der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid kann auch dann noch auf die Rechtsfolge beschränkt werden, wenn in einem Verfahren über eine nach dem Bußgeldbescheid fahrlässig begangene Ordnungswidrigkeit das AG bereits den rechtlichen Hinweis erteilt hat, dass eine Vorsatzverurteilung in Betracht kommt (OLG Frankfurt a. M. 24.11.22, 2 Ss-OWi 1149/22, zfs 23, 113; OLG Rostock VA 22, 162).

Einsicht in Messunterlagen

Über Rspr. zur Einsicht in Messunterlagen haben wir berichtet in VA 21, 113, 148, 188, 189, 224, 230; VA 22, 29, 33.

Einstellung

Allein der Umstand, dass die Betroffene offensichtlich die Ehefrau des Fahrzeughalters ist, reicht für einen hinreichenden Tatverdacht nicht aus (AG Vaihingen 1.12.22, 2 OWi 25 Js 36850/22, Abruf-Nr. 233162). Wird in der Hauptverhandlung die Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG angeregt, muss sich das AG dazu nicht in einer Art Zwischenbescheid äußern (OLG Düsseldorf VA 22, 123).

Einstellung, Auslagenerstattung

Ein Verdacht bzw. eine Überzeugung von einer Ordnungswidrigkeit genügen nicht, um von der Auslagenerstattung nach Einstellung des Verfahrens gem. § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO abzusehen. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, die die Versagung der Auslagentragung als billig erscheinen lassen (LG Saarbrücken VA 22, 111). Private Ermittlungen sind in der Regel nicht notwendig. Der Betroffene muss vielmehr grundsätzlich die Möglichkeit ausschöpfen, Beweisanträge im Ermittlungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren zu stellen. Eine Erstattungsfähigkeit privater Ermittlungen kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn sich die Prozesslage des Betroffenen aus seiner Sicht bei verständiger Betrachtung der Beweislage ohne solche eigenen Ermittlungen alsbald erheblich verschlechtert hätte oder wenn komplizierte technische Fragen betroffen sind (LG Oldenburg VA 22, 111).

Fahrtenbuchauflage

Das Führen eines Fahrtenbuchs (§ 31a StVZO) kann auch angeordnet werden, wenn der Halter eines Kfz angegeben hat, den Verkehrsverstoß selbst begangen zu haben, sofern das ggf. eine irreführende Angabe ist (VG Mainz zfs 22, 300 = DAR 22, 586; zur „Verschleierungstaktik OVG Saarland VA 22, 219). Macht der Fahrzeughalter nach einem mit seinem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoß unrichtige Angaben zum Fahrer (hier: Angabe eines Tarnnamens und einer Tarnanschrift), wirkt er nicht hinreichend an der Feststellung des Fahrers mit (VG Lüneburg 17.10.22, 1 A 139/21, Abruf-Nr. 232181). Bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte kann die Bußgeldbehörde grundsätzlich davon ausgehen, dass die im Fahrzeugregister als Zulassungsinhaber eingetragene Person auch tatsächlich der Halter ist (OVG Münster VA 22, 219). Auch ein erst- oder einmaliger Verkehrsverstoß kann eine Fahrtenbuchauflage rechtfertigen, wenn er von erheblichem Gewicht ist. Dabei kommt es auf die besonderen Umstände des Einzelfalls, wie etwa die konkrete Gefährlichkeit des Verkehrsverstoßes, nicht an (BayVGH 30.11.22, 11 CS 22.1813 für Geschwindigkeitsüberschreitung von 23 km/h außerhalb).

Rechtsbeschwerde, Begründung

Gewährt das (unzuständige) AG dem Betroffenen im Rechtsbeschwerdeverfahren Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Nachholung von Verfahrensrügen, ist das OLG daran gebunden (OLG Düsseldorf VA 22, 143).

Selbstbelastungsfreiheit im OWi-Verfahren

Verfolgt ein polizeiliches Auskunftsverlangen ersichtlich repressive Ziele, ist der Betroffene nicht verpflichtet, sich im laufenden Ordnungswidrigkeitenverfahren durch das Eingeständnis seiner Verantwortlichkeit selbst zu bezichtigen. Die Ausübung dieses Auskunftsverweigerungsrechts darf nicht mit einer Geldbuße sanktioniert werden (BVerfG VA 22, 143).

Terminsverlegung

Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn sich aus der Art und Weise der Behandlung eines abgelehnten Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrags bzw. der Begründung für dessen Ablehnung ergibt, dass die Bedeutung und die Tragweite des Rechts auf rechtliches Gehör verkannt wurden (LG Bremen VA 22, 199). Auch in einem Bußgeldverfahren hat der Betroffene regelmäßig das Recht, sich durch einen Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu lassen (LG Wuppertal 11.11.22, 26 Qs 230/22, Abruf-Nr. 232796, VA 23, 50).

Urteil, Beweiswürdigung

Will der Tatrichter dienstliches Wissen, das er außerhalb der Hauptverhandlung erlangt hat, zum Gegenstand seiner Entscheidungsfindung machen, muss er die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung darauf hinweisen, dass dies der Entscheidung als gerichtskundig zugrunde gelegt werden könnte (BayObLG zfs 22, 468).

Verjährungsfragen

Die gerichtliche Anfrage bei einer ausländischen Meldebehörde kann verjährungsunterbrechende Wirkung nach § 33 Abs. 1 Ziff. 6 OWiG haben (OLG Köln VA 22, 126). Der Erlass eines neuen (inhaltlich abweichenden) Bußgeldbescheids ohne vorherige Aufhebung eines zuvor ergangenen Bußgeldbescheids in derselben Sache unter dem Datum des früheren Bußgeldbescheids ist nichtig. Er kann die Verfolgungsverjährungsfrist nicht unterbrechen (AG Landstuhl VA 22, 199). Die Verfolgungsverjährungsfrist wird durch die bloße Veranlassung einer Aufenthaltsermittlung im Hinblick auf den Betroffenen nicht unterbrochen (§ 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 5), wenn zuvor keine vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 205 StPO erfolgt ist (AG Landstuhl VA 22, 199).

Verwerfungsurteil

Der Betroffene muss die Entschuldigungsgründe für sein Ausbleiben nicht glaubhaft machen oder nachweisen. Andererseits bietet die bloße Mitteilung, der Betroffene sei (verhandlungsunfähig) erkrankt, für sich genommen noch keinen Anhaltspunkt für eine genügende Entschuldigung und Anlass für das Gericht, im Freibeweis Feststellungen zur Verhandlungs(un)fähigkeit des Betroffenen zu treffen. Eine ärztliche Bescheinigung löst allerdings die gerichtliche Aufklärungspflicht aus. Aus ihr ergeben sich in aller Regel hinreichende – wenn auch im Rahmen der gerichtlichen Nachforschungspflicht gegebenenfalls zu verifizierende – Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung (KG 7.2.22, 3 Ws (B) 328/21, Abruf-Nr. 228150).

Das AG darf den Einspruch nicht verwerfen, wenn das alsbaldige Erscheinen des Betroffenen angekündigt und tatsächlich zu erwarten gewesen ist (KG 10.3.22, 3 Ws (B) 56/22). Es liegt nicht in der Entscheidungskompetenz des Verteidigers, dem Betroffenen zu „gestatten“ an einem Hauptverhandlungstermin wegen einer vom Betroffenen für möglich gehaltenen Corona-Infektion ohne objektiven Nachweis fernzubleiben. Das Vertrauen des Betroffenen auf die Richtigkeit dieser Auskunft des Verteidigers ist nicht geschützt (OLG Brandenburg 27.9.22, 1 OLG 53 Ss-OWi 378/22, Abruf-Nr. 232186).

Die Entscheidung über einen Entbindungsantrag steht nicht im Ermessen des Gerichts. Es ist verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (KG VA 23, 32 zugleich auch zum Verwerfungsurteil bei wegen unzureichender Gerichtsorganisation unberücksichtigt gebliebenem Entbindungsantrag). Regelmäßig ohne Belang ist, ob dem Bußgeldrichter der Entbindungsantrag bekannt war. Entscheidend ist, ob sich der Tatrichter im Rahmen seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass des Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissert hat, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt (KG VA 23, 32). Entscheidend ist nicht, ob sich ein Betroffener entschuldigt hat, sondern ob er tatsächlich entschuldigt ist (OLG Düsseldorf 31.10.22, IV-3 RBs 198/22, Abruf-Nr. 232798).

Zustellungsfragen

Die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 51 Abs. 1 S. 1 OWiG (i. V. m. Art. 9 BayVwZVG) ist auch möglich, wenn eine Abschrift des zuzustellenden Dokuments nicht dem Zustellungsadressaten, sondern einem sonstigen Empfangsberechtigten zugeht. Dies gilt auch, wenn der Empfänger die Ermächtigung zur Empfangnahme erst nach Vornahme der fehlerhaften Zustellung erhält, sofern er das Schriftstück im Zeitpunkt der Bevollmächtigung noch in Besitz hat (BayObLG VA 22, 90). In den Fällen der (frühen) Vollmachtsvorlage sind die Gerichte an sich gehalten, das Urteil dem Verteidiger zuzustellen und den Angeklagten/Betroffenen davon formlos zu unterrichten (vgl. § 145a Abs. 3 S. 1 StPO, Nr. 154 Abs. 1 RiStBV). Es besteht insoweit aber keine Rechtspflicht (OLG Brandenburg, 12.9.22, 1 OLG 53 Ss-OWi 399/22, Abruf-Nr. 231672).

Im Falle einer sog. Doppelzustellung sowohl an den Betroffenen als auch an den Verteidiger eines (in Abwesenheit verkündeten) Urteils ist für den Beginn der (Rechtsmittel-)Frist nach § 37 Abs. 2 StPO grundsätzlich die zuletzt bewirkte Zustellung maßgeblich. Dies gilt nicht, wenn die zweite Zustellung erst zu einem Zeitpunkt ausgeführt wird, als die durch die erste Zustellung in Lauf gesetzte Frist bereits abgelaufen war, weil durch die Zustellung an einen weiteren Empfangsberechtigten keine neue Frist eröffnet wird (BayObLG VA 22, 200).

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AUSGABE: VA 5/2023, S. 88 · ID: 49235953

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